Der Dharma weist, kann man auch sagen, den Weg zum Erfahren der Wirklichkeit dieser Welt. Wir wollen ihn im Buddhistischen Orden gemeinsam folgen. Unser letztes Ziel lautet: vollkommene, "heile" Menschen zu werden, die ihr gesamtes geistiges Potential erkennen und zu ihrem wirklichen "Selbst" vorstossen - unter Ablegung des Ego, das sich fälschlich mit der Person identifiziert. Zur Erkenntnisfindung und deren Stabilisierung bedienen wir uns der Meditation, weil die Möglichkeiten des Intellekts begrenzt sind. Die Auswahl der meditativen Methode wird letztlich jedem Ordensangehörigen überlassen bleiben müssen, doch sind gerade aus diesem Grunde Theorie und Praxis der verschiedenen Formen im einzelnen im fortlaufenden Schulungsprogramm des BOA einzuüben. Das spezielle Ordenssadhana[10] ist ein Breitbandspektrum vieler Möglichkeiten. Es sollte darum jedes Ordensmitglied täglich begleiten. Grundsätzlich gilt: Meditation schafft die Sammlung, die nötig ist, um das Leiden zu begreifen, das Mit-Leiden zu verwirklichen und schliesslich Leidfreiheit zu erreichen.

Zur Meditation zählt auch die Arbeit mit Archetypen[11]. Hinsichtlich deren Form und Gehalt ist auch aus dem Vorrat europäischer Überlieferungen zu schöpfen. Durch behutsames Experimentieren wird festzustellen sein, wie weit man im Laufe der Zeit asiatische Symbole durch europäische ersetzen kann.

Selbstverständlich darf diese Umformung nicht nur des Prinzips wegen erfolgen. Sie hat da zu unterbleiben, wo Gleichwertiges bzw. gleich Wirksames aus unserem Kulturkreis nicht zur Verfügung steht. Anregungen ergeben sich unter anderem aus den Werken europäischer Künstler der verschiedenen Epochen. Aufmerksamkeit ist auch dem keltisch-germanischen Mythenbereich zu widmen.

Kommen wir zum Wissen, dem Erlernbaren, das eine der Vorstufen zur Weisheit (prajna) darstellt. Jeder natürliche Lernprozess gliedert sich in drei Stufen. Sie lassen sich mit den bekannten Begriffen Lehrlingszeit, Gesellenjahre und Meisterschaft gut umschreiben. Sie gelten auch für den westlichen Konvertiten des Buddhismus. Die Zeit für das Passieren der einzelnen Stufen wird individuell variieren. Entsprechend muss die Vorbereitungszeit auf den BOA sowie im Orden gegliedert sein. Nach der Vorbereitung im Förderkreis folgen sinngemäss die Stufen Kandidat(in), Novize(/in) und schliesslich Ordensmitglied bzw. -angehörige(r). Der Lehrstoff gliedert sich nach bewährter buddhistischer Tradition in die Fächer Erkenntnis, Meditation und Ethik.

Die Logik, wiewohl nach Nagarjuna[12], der den Mittleren Weg aufzeigte, lediglich ein konventionelles Instrument zur Benennung, Interpretation und Handhabung objektiver Erscheinungen, können wir in der "relativen" Welt nicht ausser acht lassen, wollen wir "im Spiel" bleiben. An ihrem Beginn, als Eingangspforte mit dem Motto "Magna Charta Libertatum"[13], muss die Aufforderung zum Mündigwerden des Menschen stehen, wie im Kalama-Sutra[14] (Kurzfassung) formuliert:

"Glaubt nicht an irgendwelche Überlieferungen, nur weil sie für lange Zeit in vielen Ländern Gültigkeit besessen haben. Glaubt nicht an etwas, nur weil es viele dauernd wiederholen. Akzeptiert nichts, nur weil es ein anderer gesagt hat, weil es auf der Autorität eines Weisen beruht oder weil es in einer heiligen Schrift geschrieben steht. Glaubt nichts, nur weil es wahrscheinlich ist. Glaubt nicht an Einbildungen und Visionen, die ihr für gottgegeben haltet. Glaubt nichts, nur weil die Autorität eines Lehrers oder Priesters dahinter steht. Glaubt an das, was ihr durch eigene lange Prüfung als richtig erkannt habt, was sich mit eurem Wohlergehen und dem anderer vereinbaren lässt."

Dieses Sutta[15], eine kopernikanische Wende für die Gedankenfreiheit auf unserem Planeten ermöglichend, schliesst mystische Elemente nicht aus. Selbst ein Benediktinerpater wurde sich dieser Verknüpfung bewusst: "Daher müssen sich auch die westlichen Religionen mit der Frage nach Mystik befassen. Während im Osten die mystische Erfahrung immer die Mitte und das Ziel der Religion war, konnte sich die Mystik im Westen nicht immer frei entfalten. Die Folge war oft, dass sich der mystische Strom ausserhalb der organisierten Kirche und ausserhalb der Bekenntnisse entfalten musste." (P. Willigis Jäger OSB)

Die praktische Moral, im Orden basierend auf den Silas[16], muss berücksichtigen, dass die Gesellschaft von heute nicht der zur Zeit des Siddharta Gautama[17] entspricht. Der moderne Mensch des Westens ist kein barfussgehender Inder aus der Zeit vor über 2500 Jahren. Die Ethik unserer Zeit muss sich, ohne dabei parteipolitischen Absichten zu folgen, an der Erhaltung unseres gefährdeten Planeten und des Lebens auf der Erde in all seinen Erscheinungen orientieren. Zugleich ist bei den Überlegungen zur Ethik zu berücksichtigen: Geschichtliche Erfahrung hat gerade uns Deutsche gelehrt, dass in manchen Fällen grosse Verbrechen nur durch kleine ("sekundäre") Tugenden ermöglicht werden.

Dieses scheinbare Paradoxon wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass beispielsweise der Holocaust, die Shoa, nicht hätte stattfinden können, wenn da nicht gewissenhafte, nur ihre "Pflicht erfüllende" Eisenbahner pünktlich und logistisch vorbildlich die Züge mit ihrer zur Vernichtung bestimmten Menschenfracht nach Auschwitz dirigiert und pedantische Schreibtischtäter nicht die Listen der Todeskandidaten penibel "aktualisiert" sowie stramme Wachmannschaften der KZ nicht gehorsam ihren mörderischen "Dienst" versehen hätten.

So können Tugenden, wenn unter allen Umständen durchexerziert, bis ins Gegenteil pervertieren, und darum bedarf es sicher einer Überprüfung unserern gutbürgerlichen Verhaltensnormen, wenn wir einer Ethik näherkommen wollen, die unserem gesamten Planeten wie seiner biologischen Population dient.

Wir müssen, sei nochmals betont, die Silas im Lichte unserer Zeit sehen. Das dritte Sila bekommt so automatisch eine erweiterte Sinndimension, wenn wir an die Seuche unserer Tage, an Aids, denken; das fünfte Sila ist mehr als ein simples Trink- und Kneipenverbot. Es muss gelesen werden: "Ich mache es zur Übung meines Lebens, mich nicht zu berauschen." Im Klartext heisst das nicht etwa, mir sei das gelegentliche Glas Bier oder Wein verboten, denn das wäre wohl nicht der Mittlere Weg, sondern eher unbegründeter Fundamentalismus, eine moderne Spielart des Fanatismus. In wenigen Worten beinhaltet dieses Sila vielmehr die Grundformel für eine funktionierende, weil ehrliche Moral: Der bewusste Überblick muss zumindest gleich oder, besser, grösser sein als die Auswirkung unserer Aktionen.

In der Sprache beispielsweise moderner Alltagstechnik: Der Lichtkegel unseres Autoscheinwerfers muss tiefer in die Dunkelheit hineinleuchten als der Bremsweg unseres Fahrzeugs misst. Dieses Sila soll also verhindern, dass wir den Sektor unseres bewussten Überblicks kleiner werden lassen (durch Drogen, Alkohol, Wut, Hass, politischen oder religiösen Fanatismus) als den möglichen Auswirkungsradius unseres Tuns. Dass also, um es drastisch zu formulieren, der Masskrug, den ich in bester Bierlaune in die Luft werfe, in 15 Meter Entfernung auf die Schädeldecke eines Volksfestbesuchers kracht - weil ich nur noch einen Überblick über einen Ausschnitt von drei Meter habe.

Je weiter wir in die Vergangenheit zurückschauen, desto kleiner zeigt sich uns das soziale und technische Umfeld des Menschen und damit zwangsläufig sein Aktionsraum. Dadurch bedingt, konnte er mit Hilfe seiner Alltagserfahrung und des gesunden Menschenverstands die Auswirkungen seiner Handlungen sehr wohl abschätzen. Nur wenn er mit Hilfe irgendwelcher Mittel sein Bewusstsein trübte, verlor er dieses Vermögen.

Ganz anders, wie gesagt, die Situation des modernen Menschen. Sein Überblicksfeld entspricht zwar noch immer lediglich dem des Homo sapiens vor 2500 Jahren, doch sind die Auswirkungen seiner Aktionen unvergleichlich grösser und weitgespannter. Er ist schon in seinem Normalzustand gegenüber den Auswirkungen seines Tuns in einer Lage, wie es der frühere Mensch nur im Zustand der verminderten Bewusstheit war. Herkömmliche Lebenserfahrung und gesunder Menschenverstand allein erfüllen somit heute nicht mehr die Grundbedingung des fünften Silas. Den Fehlbetrag, das folgt daraus, kann der moderne westliche Praktizierende des Dharma nur durch eine aktive Haltung ausgleichen. Mit dem Unterlassen ist es nicht mehr getan.

Um im Bild zu bleiben: Es genügt nicht, beim Biergenuss zurückhaltend zu sein - der Autofahrer muss vielmehr genau wissen, wann seine Fahrtüchtigkeit, und zwar weit vor der gesetzlichen Promillegrenze, beeinträchtigt wird, und sich entsprechend zurückhaltend verhalten. Weil aber diese Sichtweise leider nicht jedermann/frau sofort vermittelbar ist, müssen wir hier für die Nulllösung eintreten.

Auch in der sozialen Ethik sollten wir zu einer differenzierteren Betrachtungsweise finden. Die einst so gloriosen Schlagworte der Französischen Revolution von 1789, nämlich Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit, haben in der Geschichte zu den grössten Massakern, statt zu mehr Menschenliebe geführt. Wir müssen darum mit Rudolf Steiner Freiheit auf den geistigen Bereich, Gleichheit auf den gesetzlichen und Brüderlichkeit auf den wirtschaftlichen verweisen. Hinzuzufügen ist von uns das Begriffspaar Rücksicht und Vorsicht.

Warum: "Freiheit und Gleichheit" geht von der irrigen Prämisse aus, die Wesen wären alle gleich. (Natürlich muss man auch den Irrtum vermeiden, die Wesen als verschieden anzusehen!). Rücksicht bezieht sich auf das Individuum, das heisst, ein Seehund kann bei einem Windhundrennen mit "Chancengleichheit" wenig anfangen. Die kleine Stammeskultur im weltabgewandten Regenwald braucht keine Brüderlichkeit , sie muss lediglich in Ruhe gelassen werden, um sich ihrem Wesen gemäss zu entwickeln.

Der Behinderte benötigt nicht so sehr die Freiheit, im Sportwagen auf der Autobahn dahinrasen zu dürfen, als Rücksicht und Verständnis. Vorsicht heisst zugleich Voraussicht, Voraussicht auf das, was geschehen muss, wenn wir gegen die universellen Gesetze verstossen. Wenn nämlich unser gemeinsamer Dampfer untergeht, ist es egal, ob wir unsere Tapeten blau mit Sternen oder schwarz-rot-gold tapezieren. Vorsicht heisst, den Rahmen alles Lebens nicht anzutasten, sei es durch Kern- oder Zellspaltung. Also nochmals: Rücksicht heisst, die Verschiedenheit der Individuen zu respektieren; Vorsicht, die Einheit alles Lebens zu erkennen.

Drei Thesen bieten sich in diesem Zusammenhang als Denkansätze an:

1. Alles Leben bewegt sich in Kreisläufen

2. Um Buddhaschaft zum Heile aller Lebewesen zu erlangen, ist ein menschlicher Körper sehr nützlich

3. Wenn diese menschlichen Körper auf dieser Erde überleben wollen, müssen wir alle uns den "Gepflogenheiten des Hauses" anpassen.

Das heisst unter anderem : Die Wachtumsideologie ist gemeingefährlich. Der einzig permanente Wachstumsprozess in der Natur ist der Krebs. Auch die Gen"technik"" ist auf vielen Feldern unter die lebensgefährdenden Verstösse einzuordnen und wird zum Teil stark verharmlost.

Ein Beispiel: Rechter Lebenserwerb. Diese Wegemarkierung sollte vorrangig zum Nachdenken zwingen etwa Atomtechniker und -physiker, Agro- und Biochemiker, Politiker und Publizisten. Praktische Moral verlangt heute vom westlichen Buddhisten auch praktisches Tun im Handeln - wie im Unterlassen ("wu-wei").

Zum Dharma und den Silas gehört unverzichtbar die praktische Nächstenhilfe. Hier müssen wir ebenso neidlos wie bedauernd feststellen, dass die Christen uns weit voraus sind. Aber wir können verlorengegangenen Boden gutmachen oder neuen "besetzen", wenn wir in unsere Betrachtungsweise die ganze Ökosphäre des Blauen Planeten einschliessen. Denn just hier liegt die Schwachstelle des christlichen Sozialverständnisses: Das christliche Sozialprogramm basiert letztendlich auf der Prämisse: "Macht euch die Erde untertan" (ihr Menschen!). Die Christen sehen in ihrer Mehrheit den Menschen noch immer nicht als das, was er tatsächlich ist: nur ein Glied im grossen Kreislauf, nur ein Teil in der Gemeinschaft aller lebenden Wesen.

Herbert Gruhl merkt dazu an ("Ein Planet wird geplündert"): "Unter den bedeutenden Religionen gibt es nur eine, die den Verzicht unter die höchsten Werte reiht, und das ist der Buddhismus ... Das Grundmotiv der buddhistischen Wirtschaftslehre ist demgemäss Einfachheit und Gewaltlosigkeit.

Nach den inneren Gesichtspunkten ein äusserlicher, dennoch nicht unwesentlicher: Auch ein Orden bedarf in einer durchorganisierten Gesellschaft wie der westlichen Industriegesellschaft der Organisation und eines gewissen Managements. Beide sollten effizient, aber keinesfalls Selbstzweck sein: So viel Organisation wie nötig, so wenig Organisation wie möglich. Regel und Satzung entsprechen dieser Maxime.

Der BOA versteht sich als Orden für Laien wie Mönche und Nonnen. Er wird deshalb versuchen, seinen Angehörigen beide Wege zu öffnen. Wer die totale Nachfolge des Buddha als Mönch oder Nonne wählen will und kann, soll dies tun, muss aber wissen, dass das Klosterleben im Westen sich ausserordentlich von dem im Osten unterscheidet. Während im letzteren die Allgemeinheit den Lebensunterhalt der Mönche und Nonnen zum grössten Teil sichert, müssen sich die klösterlichen Mitglieder des BOA im Westen nach dem benediktinischen Motto "Bete und arbeite" selbst erhalten.

"Der mönchische Weg hat heute die gleiche Bedeutung für die Botschaft wie zur Zeit des historischen Buddha. Als Weg, den ein einzelner Mensch für sich wählt, ist es ein Weg unter anderen Wegen. Was diesen Weg vor allen anderen Wegen auszeichnet, ist die Tatsache, dass die Tugenden und Techniken, die für alle Wege die Voraussetzung des Zieles sind, hier zur eigentlichen und alleinigen Lebensaufgabe werden. Das mönchische Leben macht jedem Anhänger der Buddha-Botschaft - welchen Weg immer er gewählt hat - deutlich, dass sein Bekenntnis zu Buddha ohne grosse sittliche und geistige Anstrengung ein leeres Wort bleiben muss." (Szczesny).

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